Offene Brief

// Der folgende Brief wurde im Sommer 2015 in gedruckter Form an etwa 50 Personen in Birmingham verteilt.

// Trigger Warnung: der folgende Abschnitt enthält explizite Verweise auf sexualisierte Gewalt

Offener Brief von einer Betroffenen von sexualisierter Gewalt und ihrer Unterstützungsgruppe

Wir schreiben diesen offenen Brief, um euch über Erfahrungen von Vergewaltigung und sexuellen Übergriffen zu informieren, die sich in den linken politischen Kreisen in Birmingham ereignet haben. Unsere Ziele damit sind:

  • der Person, die vergewaltigt wurde, eine Stimme zu geben
  • das Geschehene bekannt zu machen und offen über sexualisierte Gewalt zu sprechen,
  • einen Prozess in Gang zu setzen, in dem die Strukturen, die die Übergriffe ermöglichten, diskutiert werden. In dem Mittel und Wege gefunden werden, um darauf zu reagieren – und es in Zukunft zu verhindern
  • eine unterstützende Atmosphäre für alle Betroffenen sexualisierter Gewalt zu schaffen und
  • den Täter dazu zu bringen, die Verantwortung für seine Taten zu übernehmen und künftige Übergriffe zu verhindern.

Wir sind eine Gruppe von Menschen, die aktiv wurden, als die betroffene Person beschloss, ihre Erfahrungen mit politischen und persönlichen Freund*innen zu teilen. Im Vorfeld gab es einen Fall von sexualisierter Gewalt, der in der linken Szene öffentlich gemacht wurde. Die Reaktionen darauf haben der betroffenen Person das Vertrauen gegeben, offen über ihre Erfahrungen sprechen zu können. Gemeinsam beschlossen wir, mehr Menschen über die Gewalterfahrungen zu informieren. Dieser Brief ist das Ergebnis eines Aufarbeitungsprozesses, der eine kleinere Gruppe von Menschen in Birmingham und den Täter involviert hat. Bitte lest diesen Brief und nehmt euch Zeit, darüber nachzudenken. Diskutiert und teilt den Inhalt mit anderen Menschen aus euren politischen und sozialen Umfeld. Aber veröffentlicht diesen Brief oder seinen Inhalt nicht online. Teilt ihn nicht mit Menschen außerhalb der relevanten Kreise, oder mit Menschen, denen ihr nicht vertraut, entsprechend den Zielen des Briefes zu handeln. Unser Interesse gilt einer linken Szene in Birmingham, die in der Lage ist, einen emanzipatorischen Kampf in der Gesellschaft, aber auch mit sich selbst zu führen. Eine allgemeine Richtlinie für das, was wir unter relevant verstehen, lautet: alle, die den Täter oder die Person, die er vergewaltigt hat, kennen; Menschen, die in den sozialen und/oder politischen Kreisen aktiv sind oder waren; oder Menschen, die daran interessiert sind, auf die gleichen Ziele wie die oben genannten hinzuarbeiten. Wir können und wollen dies nicht aus der Ferne auf individueller Ebene entscheiden und überlassen dies daher euch. Wir möchten auch, dass die Privatsphäre der betroffenen Person geschützt wird, indem die betroffene Person oder der Täter nicht öffentlich genannt werden. Zudem bitten wir, diesen Brief nicht ins Internet zu stellen und auch nicht auf Facebook über die Vergewaltigung oder die beteiligten Personen zu sprechen.

Eine kurze Chronologie

Anfang 2012 vergewaltigte X, eine zentrale Figur in der linken Szene von Birmingham, seine damalige Freundin. Er missachtete und verletzte über mehrere Monate hinweg kontinuierlich ihre sexuelle Selbstbestimmung. Er nutzte die Situation aus, dass sie nach einem Unfall, der ihre Mobilität über Monate starke einschränkte, auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen war. Um klar darzustellen, wie wir das Wort Vergewaltigung verwenden: X ignorierte ihre ausdrückliche verbale Ablehnung sowie ihren körperlichen Widerstand gegen Sex mehrfach, als sie sich in der Reha von ihrem Unfall befand und über den Sommer mit ihm zusammen lebte. Er wurde während der Beziehung damit konfrontiert, aber die Gewalt und die Übergriffe dauerten über den Sommer an, bis sdie betroffene Person im Herbst 2012 aus Birmingham wegzog. Die Gewalt blieb unbemerkt und unerwähnt, und ein Teil der Gründe, warum wir euch schreiben, ist, dass wir erörtern wollen, welche Umstände dazu geführt haben.

Unser Ansatz

Für uns ist es sehr wichtig, dass X nicht im Zentrum des (politischen) Aufarbeitungsprozesses steht. In Debatten über sexualisierte Gewalt besteht die Tendenz, sich zu sehr auf die Frage zu konzentrieren, wie man mit dem Täter umgeht. Dies kann unserer Meinung nach davon ablenken, sich um diejenigen zu kümmern, die direkt oder indirekt von seinem Verhalten betroffen sind, und Unterstützung füreinander zu organisieren. Stattdessen denken wir, dass ein Prozess über sexualisierte Gewalt die Perspektive der betroffenen Person einnehmen sollte. Das bedeutet für uns zu verstehen, dass Vergewaltigung oft eine individualisierte Erfahrung von Ohnmacht ist. Zudem, erschwert das Tabu rund um das Thema den Umgang mit dieser Erfahrung zusätzlich, da es suggeriert, dass es sich um etwas handelt, für das man sich schämen muss oder aber um etwas, für das es zu schwer ist, einen Umgang damit zu finden. Deshalb denken wir, dass die Ermutigung von Betroffenen, offen über ihre Erfahrung zu sprechen, wenn sie das möchten, sehr ermächtigend sein kann und das deutlich macht, dass es sich nicht um ein individuelles Problem handelt; dass es nichts ist, wofür man sich schämen muss; und dass es etwas ist, für das sich Menschen engagieren wollen und können. Betroffene Personen zu empowern über ihre Erfahrungen zu sprechen ermöglicht die Verantwortung dafür zu teilen, eine Antwort auf diese Gewalttaten zu finden. Und damit die betroffene Person bei dem Versuch einen Umgang damit zu finden nicht allein zu lassen. Die Perspektive der betroffenen Person einzunehmen bedeutet für uns auch anzuerkennen, dass es in diesem, wie auch in vielen anderen Fällen, die betroffene Person ist, die sich schweigend aus dem politischen Engagement zurückzieht, während der Täter weiter aktiv bleibt. Wir sehen dies als einen der Gründe, warum Personen viel mehr über die Wirkung besorgt sind, die eine offene Debatte auf den Täter haben wird, anstatt zu fragen, welche Unterstützung den Betroffenen oder anderen von sexualisierter Gewalt betroffenen Menschen angeboten werden kann.

In den vergangenen Monaten des Aufarbeitungsprozesses reagierten viele Menschen zunächst, indem sie ihre Befürchtungen zum Ausdruck brachten, dass es eine Hexenjagd gegen den Täter geben würde, oder dass es zu einer Bestrafung und einem Shamings des Täters kommen würde. Obwohl wir diese Befürchtungen im Allgemeinen teilen, sehen wir auch ein Problem darin, sie an eine betroffene Person zu richten, die ihre Vergewaltigungserfahrung öffentlich macht. Erstens halten wir es für wichtig, diesen Brief und die Reaktionen darauf als eine Reaktion auf die Gewalt des Täters zu sehen, und dass die Situation, mit der wir uns jetzt befassen müssen, von ihm selbst geschaffen wurde und nicht von der Person, die darüber offen spricht. Zweitens halten wir es für äußerst wichtig, dass jede*r, der*die von einem Fall sexualisierter Gewalt erfährt, selber die Verantwortung dafür übernimmt, wie er*sie auf diese Information reagiert. Das Schweigen einer betroffenen Person kann nicht die Bedingung für vernünftiges Handeln sein.

Wir haben beschlossen, den Brief mit einem „X“ statt mit dem Namen des Täters zu schreiben, da wir sowohl die Identität der betroffenen Person als auch des Täters vor der Öffentlichkeit, dem Internet und feindlichen Gruppen schützen wollen. Dennoch sind wir auch der Meinung, dass es gute Gründe gibt, den Täter in Diskussionen zu benennen und zu identifizieren, und möchten euch dazu ermutigen. Dies geschieht nicht, um ihn zu bestrafen oder zu shamen, sondern weil wir der Meinung sind, dass die Unaussprechbarkeit von Vergewaltigung und sexualisierter Gewalt zu den Strukturen gehört, die es den Betroffenen unmöglich macht, darüber zu sprechen, Hilfe zu suchen und aus ihrer Situation auszubrechen. Was für Betroffene relevant ist, gilt auch für Vergewaltiger: Wenn sie relativ sicher sein können, dass über ihre Taten niemals öffentlich gesprochen werden kann, können sie sich sicher und unhinterfragt fühlen. Dies zu ändern scheint uns wichtiger zu sein als die Identität des Täters vollständig zu schützen. Es liegt an euch mit den Informationen über die Gewalt des Täters verantwortungsvoll umzugehen, so dass sich andere Betroffene ermutigt fühlen, in Zukunft über ihre Erfahrungen zu sprechen.

Während wir die Verantwortung für die Gewalttaten beim Täter sehen, sind wir der Meinung, dass sich ein politischer Prozess rund um die Vergewaltigungen eher auf die Strukturen konzentrieren sollte, die dies ermöglichten, als darauf, den Täter als Individuum zu bestrafen und/oder zu rehabilitieren. Für uns bedeutet dies, seine Gewalttaten nicht als individuelle Handlungen zu sehen, sondern sie mit seinem Verhalten im Allgemeinen zu verbinden und sie im Kontext der politischen Gruppen, in der er und die betroffene Person aktiv waren, und der Gesellschaft im weiteren Sinne, zu verstehen. Wir meinen, dass seine zentrale Rolle in der Gruppe ihm die Möglichkeit gab, unangefochten und unhinterfragt zu bleiben und dadurch sein übergriffiges Verhalten zu normalisieren. Wir sehen interne Hierarchien, Autorität und Abhängigkeiten als relevante Faktoren für missbräuchliches Verhalten sowohl in diesem Fall als auch in politischen Gruppen im Allgemeinen; und wir sind der Meinung, dass es eine breite Diskussion geben muss, die auch die Menschen „am Rande“ unserer Gemeinschaften und Gruppen erreicht.

Aus unserer Sicht konnte X darüber hinaus eine Kultur ausnutzen, in der das Politische und das Private getrennt gehalten werden, und in der es ungewöhnlich und mühevoll ist, um Hilfe zu bitten und füreinander zu sorgen. Die Auseinandersetzung mit internen Machtstrukturen wurde als eine Ablenkung vom politischen Kampf der Gruppe gesehen, die eher an private Beziehungen delegiert werden sollte. Äußerungen des Täters, dass Sex mit seiner Freundin sein Selbstwertgefühl stärke oder ihn „männlicher fühlen“ lasse, und seine Vorschläge, dass es ihre „neue Rolle“ in der Bewegung nach ihrem Unfall sein könnte, ihn gesund zu halten, werfen Sexismusfragen in unseren Beziehungen und in der politischen Organisation auf.

In dem Fall, über den wir schreiben, fühlte sich die betroffene Person aufgrund des langen Krankenhausaufenthalts, der Reha danach und der eingeschränkten Mobilität während des Aufenthalts in Birmingham isoliert und vom Täter abhängig. Wir haben beschlossen, euch dies mitzuteilen, um zu zeigen, wie andere Dimensionen der Unterdrückung, wie z.B. der Behindertenfeindlichkeit, nicht ignoriert werden sollten, wenn sexualisierte Gewalt, Fragen von Zugang und selbstbestimmtes Verhalten in unseren politischen und sozialen Kontexten diskutiert werden. Trotz der Bedeutung der strukturellen Unterdrückung wollen wir jedoch nicht das Profileng von Betroffenen fördern: Eine betroffene Person erfährt Gewalt, weil es einen Täter gibt.

Der Täter

Wir haben einen großen Teil des Briefes eingefügt, in dem erörtert wird, wie unserer Meinung nach mit dem Täter umgegangen werden sollte; dies bedeutet jedoch nicht, dass wir beabsichtigen, dies zu einem Diskussionsschwerpunkt zu machen. Vielmehr haben wir ihn hier aufgenommen, weil wir hoffen, dass er einige der Fragen beantwortet, die die Menschen möglicherweise haben, und so die Zeit reduziert, die für dieses Thema in Treffen und Plena aufgewendet werden muss.

X wurde sowohl während der Beziehung als auch danach mit seinem Verhalten konfrontiert, aber weigerte sich, sich mit seinen Taten sexualisierter Gewalt auseinanderzusetzen. Er suchte auch keine Hilfe, um das, was er getan hatte, aufzuarbeiten. Er engagierte sich weiterhin politisch und ging auch eine neue sexuelle Beziehung ein, was die Isolation und die Angst der betroffenen Person verstärkte, anderen von ihren Erfahrungen zu erzählen. In den letzten 4 Monaten standen wir per E-Mail mit dem Täter in Kontakt, um ihn zu fragen, was er in Bezug auf seine Handlungen reflektiert hat und welche Schritte er unternommen hat, um sich zu ändern. Wir haben einige Forderungen an ihn formuliert, die wir für notwendig halten, damit er die Verantwortung für seine Taten übernehmen kann;

1. Hilfe von Personen suchen, die seine Handlungen kritisch hinterfragen, um dadurch einen persönlichen Erinnerungs- und Reflexionsprozess anzustoßen, in dem er versteht, was er getan hat.  Das Ziel soll es sein, dass er sich durch diesen Prozess ändern kann.

Wir glauben, dass die Verantwortungsübernahme für seine Handlungen voraussetzt, dass er sich an seine Gewalttaten erinnert und sie versteht. Deshalb haben wir von ihm verlangt – und ihm einige Kontaktinformationen zur Verfügung gestellt -, kompetente und kritische Hilfe zu suchen, um mit ihm Täterarbeit zu machen. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels behauptet er noch immer, sich nicht an seine Gewalttaten zu erinnern. In Anbetracht seiner Handlungen und des verbalen und physischen Widerstandes der betroffenen Person halten wir dies für sehr unwahrscheinlich und ansonsten für ein ernstes Problem.

2. Jedes neue politische Umfeld und neue Sexualpartner*innen über sein gewaltausübendes Verhalten informieren

Wir glauben auch, dass ein Täter die Verantwortung hat, seine Vergangenheit für die Menschen um ihn herum transparent zu machen. Das betrifft für uns alle zukünftigen Sexualpartner*innen, aber auch Menschen, mit denen er politisch zusammenarbeitet. Es geht hierbei nicht darum, ihn zu bestrafen, sondern darum, dass die Personen in seinem Umfeld – auf der Grundlage dieser Informationen und seiner Art, damit umzugehen – selbst entscheiden können, in welcher Weise sie ihm vertrauen. Da wir seine Gewalttaten nicht als Einzelereignisse sehen, sondern auch mit missbräuchlichen Tendenzen in der Art und Weise, wie er Politik macht, verbunden sehen, und da wir ferner glauben, dass es seine zentrale Position innerhalb der politischen Gruppen war, die es ihm ermöglichte, damit durchzukommen, halten wir es für wichtig, dass die Menschen um ihn herum informiert werden, wenn er weiterhin politisch aktiv bleiben will. Dazu gehören nicht nur die „zentralen“ Personen von politischen Gruppen, sondern vor allem diejenigen in weniger zentralen und mächtigen Positionen, die nicht im Zentrum der Entscheidungen stehen.

3. Uns und der Kontaktgruppe gegenüber rechenschaftspflichtig bleiben

Wir halten es für wichtig, dass X nicht vor seiner Verantwortung davonlaufen kann, indem er die politische Gruppe, die Stadt oder die Freund*innen wechselt. Im Moment stehen wir mit ihm in Kontakt und werden dies auch in den nächsten Monaten tun. Damit wollen wir ermöglichen, dass sich die Diskussionen in Birmingham nicht auf diese Aufgabe konzentrieren. Für die Zukunft hoffen wir, in England eine Kontaktgruppe einzurichten, die die Schritte mit ihm diskutiert, die er als Antwort auf unsere Forderungen und darüber hinaus unternimmt. Wir sind der Meinung, dass diese Gruppe von Personen gebildet werden sollte, die keine engen Freund*innen von X sind, die aber bereit sind, sich an diesem Prozess zu beteiligen.

Schließlich wollen wir zu eurer persönlichen Beziehung zu X keine Stellung beziehen oder Urteile fällen. Von unserer Seite aus sehen wir keine Notwendigkeit, dass jemand die Verbindung zu X politisch oder persönlich abbricht. Wir verstehen jedoch, dass einige Leute ihre eigenen guten Gründe dafür haben werden. Wir möchten an dieser Stelle auch deutlich machen, dass wir die Entscheidung seiner jetzigen Freundin respektieren, in einer Beziehung mit ihm zu bleiben, und dass wir in den vergangenen Monaten auch mit ihr in Kontakt waren. Während ihre Positionen innerhalb dieses politischen Prozesses natürlich nicht unumstritten sind, sind wir der Meinung, dass seine Freund*innen und insbesondere seine Partnerin nicht für ihre Beziehung zu X kritisiert werden sollten. Wir halten es für gut, wenn Menschen, die sich entscheiden mit dem Täter in Kontakt zu bleiben, ihn mit seinen Taten konfrontieren und das Thema nicht aussparen. Gleichzeitig bitten wir euch, wenn ihr mit X sprecht, immer zu bedenken, dass das, was ihr hört, nur seine Perspektive ist. Wir bitten euch die Privatsphäre der Person, die er vergewaltigt hat, zu respektieren, indem ihr ihm nicht erlaubt, über sie zu sprechen, sondern sich stattdessen auf sich konzentriert.

Ideen für den Prozess in Birmingham

Wie wir oben bereits erwähnt haben, glauben wir, dass sich ein Aufarbeitungsprozess in Birmingham idealerweise nicht auf X konzentrieren, sondern stattdessen die Perspektive der betroffenen Person einnehmen sollte. Der Prozess soll die Betroffenen unterstützen und sich auf die strukturellen Bedingungen konzentrieren, die die Gewalt möglich gemacht haben. Wir wünschen uns einen offenen, unterstützenden und reflektierenden Prozess über die vorgefallenen Vergewaltigungen, über gewaltfördernde Strukturen und darüber, wie sie überwunden werden können. Wir möchten die Situation in Birmingham so verändern, dass die betroffene Person sich wohl fühlen kann, Birmingham zu besuchen, mit anderen frei über das Geschehene zu sprechen und Unterstützung statt Isolation zu finden. Darüber hinaus hoffen wir auch, dass der Prozess rund um diesen einzelnen Fall allgemein dazu beitragen kann, künftige Muster von sexualisierter Gewalt aufzudecken und zu verhindern. Wir hoffen, eine Kultur der kritischen Achtsamkeit / Awareness sowie unterstützende und empowernde Strukturen für Betroffene von sexualisierter Gewalt zu schaffen, anstelle von Tabus, Schweigen und der Erwartungshaltung, diese Probleme individuell statt kollektiv anzugehen.

Um diese Ziele zu erreichen ist es unserer Meinung nach wichtig, sich auf die Organisation eines kollektiven Prozesses in Birmingham zu konzentrieren, bei dem sich der*die Einzelne nicht hilflos, frustriert oder überfordert fühlt, eine Antwort auf all dies zu finden. Ein solcher Prozess könnte sicherlich viele Formen annehmen. Als ersten Schritt schlagen wir vor ein Treffen abzuhalten, um den Brief im Detail durchzusprechen, Fragen zu klären oder aufzuwerfen und sich auf weitere Treffen und Schritte zu einigen, die ihr unternehmen wollt.

Hinsichtlich der langfristigen Ziele dieses Aufarbeitungsprozesses gibt es unserer Meinung nach (mindestens) drei zentrale Fragen, die in Birmingham diskutiert werden sollten;

1. Welche Faktoren im sozialen und politischen Kontext unterstützen übergriffiges und gewaltvolles Verhalten?

2. Welche Faktoren hindern die Betroffenen daran, ihre Erfahrungen zu teilen, um Unterstützung zu bitten oder die bedrohliche Situation zu verlassen, in der sie sich befinden?

3. Welche Strukturen müssen aufgebaut werden, um zukünftige Vorfälle sexualisierter Gewalt zu verhindern und um Menschen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, zu unterstützen und zu empowern?

Wir denken, dass es sehr hilfreich wäre, einen Rahmen anzubieten, in dem Menschen, die sich weiter mit dem Thema beschäftigen wollen, dies tun können. So soll die Awareness in der Birminghamer Szene nachhaltig gestärkt werden; in Bezug auf Fragen von Macht, Gewalt und Abhängigkeitsstrukturen und wie diesen kollektiv begegnet werden kann. Diskutiert werden könnte z.B., wie eine ansprechbare Struktur geschaffen werden kann, an die sich Betroffene wenden können; mit welchen Dynamiken Betroffene konfrontiert werden, wenn sie anfangen, über ihre Erfahrungen sexualisierter Gewalt zu sprechen; wie hierarchische Strukturen in der Gruppe transparent gemacht und abgebaut werden können; wie mit Abhängigkeiten kollektiv umgegangen werden kann oder was Menschen helfen könnte, Gewalt zu bemerken und nach ihr zu fragen. Dies ist jedoch nur eine Liste von Themen, die wir uns überlegt haben, ohne die aktuelle Situation in Birmingham zu kennen. Deshalb hoffen wir, dass ihr sie aus eurer eigenen Perspektive und Erfahrung anpasst und ergänzt. Wir sind uns bewusst, dass dies für viele ein sehr herausforderndes Thema ist und möchten darauf hinweisen, dass es oft nützlich sein kann, externe Unterstützung (z.B. in Form von Workshops oder Trainings) von Menschen zu bekommen, die mehr Erfahrung damit haben.

Auch wenn wir selbst keine Hauptakteur*innen des Prozesses in Birmingham werden wollen, würden  wir gerne über die Geschehnisse auf dem Laufenden gehalten werden. Wir würden uns freuen, wenn ihr uns eine kurze Zusammenfassung eurer Treffen zukommen lassen könnt. Unsere Gruppe wird bis zum Ende des Jahres regelmäßig (alle 2-3 Wochen) zusammenkommen, und wir sind gerne bereit, in dieser Zeit Fragen zu beantworten oder zu versuchen, Ratschläge und Empfehlungen zu geben. Auch wenn wir nach 2015 vielleicht nicht mehr in der Lage sein werden, auf E-Mails zu antworten, werden wir sie dennoch lesen und vielleicht eine Zusammenfassung darüber verfassen, wie wir die Reaktionen erlebt haben. Ihr könnt uns über diese E-Mail-Adresse erreichen: against_rape@riseup.net. Wir können auch private Nachrichten vertraulich an die betroffene Person weiterleiten, wenn ihr dies in eurer E-Mail deutlich macht.