Den Aufarbeitungsprozess der Verantwortungsübernahme in Birmingham abzuschließen und zu bewerten, bedeutet nicht, dass wir aufhören, darüber zu reden oder nachzudenken. Aber es bedeutet, dass wir aufhören, in den Gruppen zu arbeiten, die sich gebildet hatten. Einige von uns werden diese Arbeit vielleicht in anderen Zusammenhängen fortsetzen, z.B. bei Plan C oder der interventionistischen Linken und anderen außerparlamentarischen linken Gruppen, Kampagnen, kleineren Basisgewerkschaften und anderen Formen der Organisierung. Vor allem aber hoffen wir, dass andere sich durch unsere Erfahrungen ermutigt fühlen, das zu debattieren und zu praktizieren, was wir für eine wesentliche antisexistische Agenda linker Politik halten. Es mag schwer sein, sich eine Welt ohne sexualisierte Gewalt vorzustellen. Aber in einer Welt, in der die betroffenen Personen wissen würden, dass man ihnen zuhört, ihnen glaubt und sie unterstützt, sobald sie sich entscheiden, darüber zu sprechen, was sie erlebt haben, würden die Täter einen Großteil ihrer Macht verlieren, die die Gewalt teilweise erst möglich gemacht haben.
Chronologie
Lesekreis
Nach einigen offenen Treffen in Birmingham beschlossen einige Leute, dass sie Fortschritte machen wollten, indem sie sich als eine Gruppe trafen, die mit den Hauptzielen des Briefes einverstanden waren. Es wurde ein Lesekreis gegründet, da viele sich überfordert fühlten, wodurch ein Raum für gegenseitiges Lernen und Bewusstseinsbildung geschaffen wurde.
Darüber hinaus trafen wir die Entscheidung, unsere Erfahrungen aufzuschreiben, um sie anderen zugänglich zu machen. Deshalb bildeten wir auch eine Schreibgruppe, die an einer Veröffentlichung unserer Erfahrungen und Überlegungen arbeiten sollte, deren Ergebnis diese Website ist. Die Veröffentlichung dieser Website hat viel länger gedauert, als wir geplant hatten, und der Prozess steckte irgendwo zwischen sehr hohen Erwartungen an uns selbst und anderen Verpflichtungen fest. Außerdem stimmten viele von uns darin überein, dass die Verantwortungsübernahme nicht einfach an einem bestimmten definierten Punkt enden kann. Dabei waren wir uns allerdings unklar, wie wir uns als Gruppe mit begrenzter Kapazität, die sich zunehmend über das Land verstreute, weiterhin sinnvoll darin engagieren konnten. Deshalb kamen wir überein, durch die Veröffentlichung dieser Website einen gemeinsamen Schlusspunkt für zumindest ein Kapitel in diesem Aufarbeitungsprozess zu finden. Diejenigen, die Teil dieses Prozesses waren, aber aus verschiedenen Gründen damit aufhörten, wurden eingeladen, persönliche Stellungnahmen zu schreiben.
Täter-Kontaktgruppe
Im Dezember 2015 gründeten wir aus der Birminghamer Prozess-Gruppe eine Täter-Kontaktgruppe. Die betroffene Person und ihre Unterstützungsgruppe übergaben diese Aufgabe und hatten ein Dokument über die Ziele, Prinzipien und Aufgaben verfasst, die sie für diese Gruppe sahen.* Fünf Personen, die in verschiedenen Städten lebten, schlossen sich dieser Gruppe an und arbeiten seither in wechselnder Zusammensetzung, um den Täter entsprechend den im offenen Brief formulierten Forderungen zur Verantwortung zu ziehen. Zu diesem Zeitpunkt, fünf Jahre später, hat er noch keine dieser Forderungen erfüllt.
Zunächst baten wir ihn, kritische Hilfe zu suchen, um sich ins Gedächtnis zu rufen und zu verstehen, was er getan hat; und um sich daraufhin zu ändern. Er weigerte sich jedoch, Täterarbeit zu leisten und lieferte uns nie Reflexionen über sein Verhalten. In den Gesprächen, die wir führten, deutete er an, dass seine Umstände für sein Verhalten verantwortlich seien, anstatt selbst die Verantwortung dafür zu übernehmen. Er wollte nie mit jemandem sprechen, der die Perspektive der betroffenen Person einnahm, sondern nur mit Menschen, von denen er dachte, dass sie sich in seine Perspektive einfühlen würden.
Zweitens wollten wir, dass er jedes neue politische Umfeld und Sexualpartner*in mit dem offenen Brief über sein übergriffiges Verhalten informiert, um zukünftige Gewalt zu verhindern. Wir wissen nicht, ob dies überhaupt stattgefunden hat, da er uns nie darüber informiert hat. Wir wissen jedoch, dass er weiterhin politische Arbeit macht, ohne die Menschen zu informieren, mit denen er zusammen arbeitete. Wir haben versucht, mit ihm daran zu arbeiten, aber die Kommunikation war sehr schlecht, und wir hatten das Gefühl, dass er auf Zeit spielte.
Drittens wollten wir, dass er rechenschaftspflichtig bleibt, aber oft antwortete er über längere Zeiträume nicht auf E-Mails oder nahm an geplanten Treffen nicht teil.
Abschließend müssen wir also feststellen, dass er keine der drei Forderungen erfüllt hat – und bei diesem Verhalten von einem Netzwerk von Personen unterstützt wurde, die dieses Verhalten legitimierten. Die Kontaktgruppe reiste nach London, um Genoss*innen und Freund*innen von ihm zu informieren und zu treffen und sie in den Prozess einzubeziehen. Wir sind nach wie vor der Meinung, dass er diesen Forderungen nachkommen muss und dass seine Umgebung eine Verantwortung hat, ihn zur Verantwortung zu ziehen. Als Teil der Arbeit in der Tätergruppe war es jedoch wichtig zu erkennen, dass man jemanden nicht zwingen kann, sich zu ändern, vor allem, wenn er selbst keine Motivation hat und wenn er von Menschen und Strukturen unterstützt wird, die sein Verhalten entschuldigen oder relativieren. Letzten Endes müssen wir, obwohl wir immer noch an transformative Gerechtigkeit als mögliche Alternative zu staatlicher Repression glauben, anerkennen, dass unsere Möglichkeiten begrenzt sind. Wir als Kontaktgruppe können nur Forderungen an den Täter stellen, die Perspektive der betroffenen Person vertreten und selbst danach handeln, die Gruppe kann den Täter aber zu nichts zwingen und sollte keine Verantwortung für sein Handeln übernehmen.
Offene Plena
Zusammen mit der Verteilung des offenen Briefes wurden die Menschen zu einem ersten offenen Treffen in Birmingham eingeladen. Jede*r durfte kommen, und es gab keine spezifische Tagesordnung; Sachfragen wurden beantwortet, Fragen aufgeworfen, die die Menschen als relevant für die Diskussion empfanden, und die nächsten Schritte wurden vereinbart. Da sowohl die betroffene Person als auch der Täter in verschiedene Städte umgezogen waren, beschränkte sich die Arbeit zur Unterstützung der betroffenen Person von Birmingham aus auf die Aufarbeitung, da die sofortige emotionale Unterstützung der betroffenen Person nicht notwendig war. Unser positiver Beitrag als Prozessgruppe innerhalb der Birminghamer Szene bestand vielmehr darin, ein Umfeld zu schaffen, in dem die betroffene Person sicher sein konnte, dass ihre Geschichte geglaubt und die Vorfälle von der Gemeinschaft ernst genommen wurden. Um dieses Umfeld zu schaffen, beschlossen wir, uns regelmäßig zu treffen, um über die Gewalt in unserer Studierendengruppe zu diskutieren und darüber, wie ihre Strukturen sexualisierte Gewalt begünstigt hatten.
In dem Bemühen, die Bildung informeller Hierarchien zu begrenzen, wurden die Treffen wie folgt organisiert: Es wurde eine Koordinationsgruppe eingerichtet, die lediglich die E-Mails koordinierte und sicherstellte, dass zu den zweimonatlichen Treffen eingeladen wurde. Die Tagesordnung wurde mindestens 4 Tage im Voraus verschickt, wobei Änderungen und Ergänzungen der bestehenden Tagesordnung möglich waren, und die Protokolle wurden allen auf der E-Mail-Liste aufgeführten Personen sowie der betroffenen Person und ihrer Unterstützungsgruppe unmittelbar nach dem Treffen zugesandt. Diese Gruppe bestand aus 5 Freiwilligen und sollte alle sechs Monate rotieren. Nach jedem Treffen wurde eine Tagesordnungsgruppe gebildet, die die Aufgabe hatte, sich zu treffen, um die Tagesordnungen und Fragen für die Diskussionen bei dem nächsten Treffen festzulegen. Diese rotierende Tagesordnungsgruppe ermöglichte es den Mitgliedern, selbstständig zu entscheiden, was sie diskutieren wollten. Zu Beginn und am Ende eines jeden Treffens gab es auch eine Emo-/Wohlfühlrunde. Es wurde beschlossen, Diskussionen über die psychische Gesundheit der Mitglieder in das Treffen einzubeziehen, anstatt getrennte Emo-Treffen abzuhalten, da viele die Trennung als willkürlich ansahen und die Befürchtung bestand, dass getrennte Emo-Treffen den Mitgliedern nicht so viel Wichtigkeit/Wert bringen und eine Arbeitsteilung in diesem Prozess reproduzieren würden.
Nach anfänglichen Diskussionen beschlossen wir, eine Liste von Fragen zu erstellen, mit der wir die Faktoren herausarbeiten wollten, die zu den Vorfällen beigetragen haben. Diese Treffen erstreckten sich über einen Zeitraum von etwa drei Jahren mit einigen Phasen der Inaktivität und Stagnation und wurden von etwa 10-15 Personen besucht. Die Menschen waren oft verwirrt oder uneins darüber, was wir in Zukunft tun sollten, inwieweit wir uns auf die Täterarbeit konzentrieren sollten und inwieweit die Kontaktgruppe zum Beispiel Rückmeldung an uns geben sollte. Viele gaben jedoch an, dass diese Diskussionen sie zum Nachdenken über ihr eigenes Verhalten angeregt hätten und dass sie einen Raum boten, in dem sie Erfahrungen mit Vergewaltigung und Übergriffen austauschen konnten.
Verteilen des offenen Briefes
Weil so viele Bedenken über eine mögliche „Hexenjagd“ geäußert worden waren, haben wir, die Unterstützungsgruppe in Berlin, beschlossen, den offenen Brief vom Internet fernzuhalten und ihn nur in gedruckter Form zu verteilen. Das war extrem zeitaufwendig, und es war klar, dass wir dafür Leute in Birmingham brauchten. Leider waren von den neun Personen, die den offenen Brief erhalten hatten, nur zwei bereit, diese Aufgabe zu übernehmen. Zu diesem Zeitpunkt schlossen sich weitere Personen an, aber die Arbeit ruhte immer noch auf sehr wenigen Personen, was ein weiterer Grund ist, warum es wichtig gewesen wäre, schon früher mehr unterstützende Personen in den Prozess einzubeziehen.
Information an enge Freund*innen des Täters
In der Unterstützungsgruppe beschlossen wir, die dem Täter am nächsten stehenden Personen, darunter auch seine damalige Partnerin, in einem frühen Stadium des Prozesses zu informieren, und versicherten diesen Personen, dass bis zu einem bestimmten Zeitpunkt keine weiteren Personen informiert würden. Dies geschah, weil wir ihnen ohne öffentlichen Druck Zeit geben wollten, um die Informationen zu verarbeiten und bei Bedarf emotionale/materielle Unterstützung zu finden. Diese Auswahl der Personen, die Offenheit über die nächsten Schritte des Aufarbeitungsprozesses und die geografische Distanz zwischen uns unterstützten jedoch die Bildung einer Gruppe, die verhindern wollte, dass noch mehr Menschen informiert werden.
Obwohl dies nicht unbedingt der Fall sein muss, hätte man im Nachhinein erwarten können, dass diejenigen, die dem Täter am nächsten stehen, die größten Befürchtungen hinsichtlich der negativen Auswirkungen einer Veröffentlichung des Briefes auf ihr persönliches Leben und ihre politische Glaubwürdigkeit haben würden. Anstatt sich in die betroffene Person einzufühlen, begannen sie, sich selbst als Opfer dieses Prozesses darzustellen und schoben die Schuld für die Störung ihres Lebens vom Täter auf die betroffene Person ab. Die Anschuldigungen und Zweifel, die von diesen Leuten formuliert wurden, um den Prozess zu delegitimieren, waren äußerst verletzend und wenn wir die Zeit zurück drehen könnten, würden wir mehr darauf achten, zuerst die Leute zu informieren, von denen wir glauben, dass sie uns unterstützen werden.
Gründung einer Unterstützungsgruppe
Im Dezember 2014 wurde in Berlin eine Unterstützungsgruppe mit zwei Genoss*innen der politischen Organisation der betroffenen Person (iL) und zwei ihrer Mitbewohner*innen gegründet. Ziel dieser Gruppe war es, Strategien zu diskutieren und gemeinsam Verantwortung für unser Verhalten und Agieren zu übernehmen, wie z.B. die Veröffentlichung des Briefes und alle E-Mails, die wir verschickt haben, auch an den Täter. Auf diese Weise haben wir versucht, die Verantwortung von den Schultern der betroffenen Person auf einen kollektiven Prozess zu übertragen.
Bei unserem ersten Treffen erörterten wir Fragen der Vertraulichkeit, der Sprache, die wir verwenden wollten, die Ziele und die Art und Weise unserer Zusammenarbeit. Wir hatten also nicht nur die Gruppe gegründet, sondern bereits eine Agenda entworfen. Danach trafen sich die Gruppenmitglieder ohne die betroffene Person, um über Erwartungen, Engagement und Verfügbarkeit zu sprechen, bevor wir mit der Arbeit begannen. Mindestens ein bilateralesTreffen wurde abgehalten, um widersprüchliche Perspektiven zwischen den Mitgliedern der Unterstützer*innen-Gruppe zu klären.
In einem nächsten Schritt teilte die betroffene Person ihre Erfahrungen der Vergewaltigungen, ihrer Beziehung mit dem Täter, ihren sozialen und politischen Kontext und ihre Bemühungen, den Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Bald darauf informierten wir zwei Vertrauenspersonen aus Birmingham und diskutierten mit ihnen unser Vorhaben. Von nun an traf sich die Unterstützungsgruppe, einschließlich der betroffenen Person, ein- oder zweimal im Monat, bei Bedarf auch öfter.
In der Regel empfiehlt es sich, die Aufgaben der Unterstützungsgruppe sowie der Gruppe, die Täterarbeit leistet, zu trennen. Da wir uns jedoch in einer anderen Stadt befanden und keiner der Leute den Täter kannte, hatten wir das Gefühl, genügend Abstand zu ihm zu haben, um beide Aufgaben zu übernehmen. Wir wollten desweiteren sicherstellen, dass sich die Aufarbeitung in Birmingham nicht auf den Täter konzentriert. Wir trafen uns so lange, bis Anfang 2016 eine Täter-Kontaktgruppe in Birmingham eingerichtet wurde.
Persönliche Konfrontation
Ich hatte meinen damaligen Freund mit seinem übergriffigen und gewaltvollen Verhalten während und nach unserer Beziehung konfrontiert. Ich bat ihn, mir einen Brief zu schicken, in dem er seine Taten zugeben und sich dafür entschuldigen würde. Ich wollte, dass er begreift, was er getan hat, und ich hoffte, dass dies eine Möglichkeit für ihn wäre, sich zu ändern, und für mich, zu verzeihen. Dafür brauchte er zwei Jahre, und als ich 2014 seinen Brief erhielt, wurde mir klar, dass er ihn nur aus Angst vor Konsequenzen geschrieben hatte und dass er kein Ausdruck davon war, dass er mich oder sein Verhalten ernst nimmt.
Der offene Brief einer betroffenen Person sexualisierter Gewalt an die linke Szene Berlins gab mir dann eine neue Perspektive, wie ich mit meinen Erfahrungen nicht allein, sondern kollektiv umgehen könnte. Entscheidend war, dass ein Genosse und Freund mir seine Unterstützung anbot, ohne dass ich danach fragen musste, was ich wahrscheinlich nie getan hätte.